2007-01-19

Freihandelsabkommen im Agrar- und Lebensmittelbereich (FHAL) mit der EU – Warum sind wir dafür?

Wir haben ein Problem...

Im Jahre 2004

- erzeugten 92'000 Arbeitskräfte auf 64'000 Landwirtschaftsbetrieben für 9.7 Milliarden CHF Güter,
- erhielten zusätzlich über 2 Milliarden CHF als Entschädigung für gemeinwirtschaftliche Leistungen und 700 Millionen CHF Subventionen (Marktstützung)
- erwirtschafteten damit ein Nettoeinkommen von 3 Milliarden CHF.

Das heisst, 2.6 % der aktiven Bevölkerung haben 1.3 % des Bruttoinlandproduktes BIP produziert.

Trotz der Senkung der landwirtschaftlichen Produzentenpreise seit Beginn der Reform der Agrarpolitik im Jahre 1992 um mehr als 25 % sind die Konsumentenpreise um durchschnittlich über 10 % gestiegen. Sie sind noch immer wesentlich höher als in der EU. Dies ist zu einem Drittel auf die im Durchschnitt fast doppelt so hohen Preise für landwirtschaftliche Rohstoffe zurückzuführen und zu zwei Dritteln auf höhere Verarbeitungskosten und Margen.

Es besteht Handlungsbedarf...

In der Landwirtschaft stellt man fest, dass die bis jetzt erbrachten Leistungen nicht in gewünschtem Ausmass beim Konsumenten "angekommen" sind. Die verarbeitenden Betriebe dagegen sehen ihre Konkurrenzfähigkeit vorab durch zu hohe Rohstoffpreise gefährdet. Der gesamte Ernährungssektor befürchtet durch den Verlust von Wettbewerbsfähigkeit bei offeneren Grenzen und dem zunehmenden Nahrungsmitteltourismus Marktanteile zu verlieren.

Hinzu kommt, dass in den nächsten 5 – 10 Jahren der aussenhandelspolitische Druck durch die WTO oder durch bilaterale Freihandelsverträge auf die Reform der Agrarpolitik zunehmen wird.

FHAL CH – EU verlangt nicht nur "Opfer", sondern eröffnet auch "Perspektiven "...

Alle aussenhandelspolitisch wahrscheinlichen Entwicklungen führen zu einer Verminderung des sektoralen Nettounternehmereinkommens der Landwirtschaft, im schlimmsten Fall gegenüber heute auf die Hälfte. Dies gilt sowohl für die Auswirkungen künftiger WTO – Beschlüsse wie für bilaterale Freihandelsabkommen.
Freihandel im Agrar- und Lebensmittelbereich mit der EU bringt ebenfalls Einkommenseinbussen in der gleichen Grössenordnung. Dagegen eröffnet der Zugang zum europäischen Markt der Landwirtschaft auch Perspektiven für den Absatz ihrer Produkte. Ebenso würde die Kostenseite entlastet und die vor- und nachgelagerten Bereiche in die notwendigen Strukturanpassungen miteinbezogen.

Agrarfreihandel mit der EU bedeutet:

- Ungehinderter Zutritt zum europäischen Markt (ab 2007 knapp 500 Mio. Konsumenten, EU ist Nettoimporteur). Nicht nur die Zölle, sondern auch alle nichttarifären Handelshemmnisse werden abgeschafft. In folgenden Bereichen wird eine Harmonisierung, eine gegenseitige Anerkennung oder die Übernahme der in der EU geltenden Vorschriften vorgenommen: Dünger, Schädlingsbekämpfungsmittel, Futterzusätze, Tierarzneimittel, patentierte Produktionsmittel, Sorten, Tiere und Lebensmittel (Normen, Etikettierung, AOC, etc.).

- Die vor- und nachgelagerten Bereiche werden mindestens im gleichem Umfange gefordert wie die Landwirtschaft. Die aktuelle Marktspanne wird substanziell reduziert. Die tieferen Rohstoffpreise der Landwirtschaft würden an die Konsumenten weitergegeben.

- Die dadurch erzielte Erhöhung der Kaufkraft unserer Konsumenten trägt zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Schweiz bei. Dies dürfte auch die Akzeptanz der Agrarpolitik erhöhen.

- Der Anreiz zum Nahrungsmitteltourismus wird wesentlich vermindert oder entfällt. Allein beim Fleisch wird der Einkommensausfall auf jährlich gegen 100 Mio. CHF geschätzt.

- Die Schweiz behält das agrarpolitische Instrumentarium, dies im Gegensatz zu einem EU – Beitritt, in der Hand. Das ist unter anderem wichtig für die Ausgestaltung der Direktzahlungen und der Investitionshilfen.

- Der gesamte Agrarsektor erhält eine Perspektive und hat es in der Hand durch entsprechende Marktleistungen die Einkommensreduktion teilweise aufzufangen.

Ein FHAL mit der EU ist eine grosse Herausforderung für den gesamten Ernährungssektor, nicht nur für die Landwirtschaft. Unsere Erfahrungen beim Käse und beim Wein, sowie die Erfahrungen der österreichischen Kollegen mit dem EU – Beitritt lehren uns, dass sie mit entsprechenden Begleitmassnahmen durchaus zu bewältigen ist.

Wir brauchen eine vorwärtsgerichtete, offensive Agrarpolitik mit einem klaren Ziel, die nicht nur "Opfer" verlangt von den Betroffenen, sondern für diejenigen, die sie wahrnehmen wollen, auch "Perspektiven" bietet. Die von der Landwirtschaft bis jetzt erbrachten Leistungen und die im Rahmen der AP 2011 geforderten Anpassungen geben nur einen Sinn, wenn wir zugleich die Marktöffnung gegenüber Europa erhalten. Es ist die einzige Alternative zu einer Politik der Abschottung die letztlich den langsamen, unausweichlichem Niedergang der produzierenden Landwirtschaft bedeutet.


Zusammenfassung des Beitrages von Ulrich Niklaus, GOAP, Freitag 19. Januar 2007, WTI Seminar, Uni Bern


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